Mandoob 01ENT

Ali Kalthami:

Der Regisseur, der Saudi-Arabien wieder ins Kino brachte

Als Ali Kalthami 1983 in Riyadh geboren wird, gehen in Saudi-Arabien gerade die Kinolichter aus. Eine ganze Generation wächst mit VHS-Kassetten, Satellitenschüsseln und dem Gefühl auf, dass großes Kino eigentlich immer woanders stattfindet. Ali Kalthami wird zum Computernerd mit Kamera, Herz, Humor und unheimlich viel Geduld. Er ist ein zukünftiger Regisseur…in einem Land ohne Leinwand.

35 Jahre wartet Ali Kalthami, bis die Türen der Kinos wieder aufgehen. Denn während Kinder anderswo von endlosen Filmmarathons im Multiplex träumten, sahen junge Saudis ihre Geschichten nur in Fernsehbildern, importierter Popkultur oder in den Fantasien, die sie sich zwischen Freundesgruppen erzählten. Für Kalthami war das Kino lange eine ferne Sehnsucht, eine leere Bühne, auf der zwar Szenen im Kopf existierten, aber niemand wusste, ob sie jemals gezeigt werden konnten.

Dann kam 2018 – und plötzlich flackerte wieder Licht auf den Leinwänden des Königreichs. Für das Land war es ein Moment von historischer Wucht, ein Neustart nach fast 35 Jahren Stille. Für Kalthami war es beinahe eine Berufung: Die Tür öffnet sich, die Möglichkeiten stehen bereit – aber jetzt muss man liefern. Und wie er lieferte:

Mandoob poster

Sein Spielfilm „Mandoob“ wurde zum meistgesehenen saudischen Film im Land und markierte nicht nur den kommerziellen Erfolg eines Regisseurs, sondern den Moment, in dem das saudische Publikum spürte, dass seine eigenen Geschichten endlich einen Platz im Zentrum bekommen hatten. Leser des #SaudiMag aus der Schweiz können den Film, deutsch untertitelt, ab sofort im Streaming bei Trigon sehen: WEBSITE

Das Drama verfolgt Fahad, einen Lieferfahrer in Riyadh, der durch Schichtarbeit, Verpflichtungen und gesellschaftlichen Druck immer tiefer in die Schatten einer Metropole abrutscht, die in rasantem Tempo auf Weltstadtniveau transformiert. Tagsüber arbeitet Fahad im Callcenter, nachts fährt er als Kurier. Nach einem Streit verliert er seinen Job und steht vor dem Nichts, denn sein gesamtes Geld fliesst in die Behandlung seines kranken Vaters. Als er zufällig auf einen Vorrat gefälschtem Whisky stösst, rutscht er, getrieben von Verzweiflung, in einen illegalen Alkoholring und die Geschichte entwickelt sich zum wohl ersten saudischen „Film Noir“. Denn Kalthamis Protagonist ist kein Überflieger. Er ist einer, den jede Großstadt kennt: ein junger Typ, der gleichzeitig seine Familie, seine Rechnungen und sein Ego irgendwie über Wasser halten muss. Dieser Film zeigt keine glatten Werbebilder und keine Hochglanzfassaden, sondern den Alltag hinter den Fassaden – die langen Schichten, den spürbaren Aufbruch, aber auch das Gefühl, dass einige Menschen auf der Strecke bleiben, während andere scheinbar mühelos nach oben steigen. Es wird klar: Wandel ist nicht nur spannend und glamourös – er ist auch anstrengend, herausfordernd und emotional messbar.

Mandoob

„Mandoob“ ist kein Film, der versucht, die große historische Bühne auszuleuchten. Er ist ein nächtlicher, atmosphärischer Blick auf die Realität einer Stadt, die sich schneller verändert, als manche Menschen mithalten können. Ali Kalthami ist selbst „ein Junge aus Riyadh“, wie er sagt – einer, der die Stadt nicht einfach kennt, sondern miterlebt hat: 80er Stille, 90er Umbrüche, 2000er Digitalisierung, 2010er Viral-Boom und dann – das Kino-Comeback. In seinem Film ist die Stadt deshalb nicht Kulisse – sondern Charakter. Eine Stadt, die größer wird, glänzt, irritiert, begeistert und manchmal verschluckt.

Während Corona entstand die Idee: Die wahren Helden der Stadt sind die Lieferfahrer – die einzigen, die unterwegs sind, wenn alle anderen zu Hause sitzen. Und so folgt „Mandoob“ einem Mann durch Aufzüge, Glasfassaden, Einfamilienhäuser und Hinterräume – und zeigt, wie die Stadt mit ihm spricht: mal freundlich, mal eiskalt, mal herzzerreißend real.

Dass Ali Kalthami ein so sensibles Auge für die „Menschen im Turbo“ hat, kommt vielleicht daher, dass sein eigener Weg in die Filmwelt alles andere als glamourös begann. Er war IT-Administrator in einem TV-Sender – jemand, der morgens Router resetete und Drucker einrichtete. Zwischendrin pitchte er Ideen, die niemand hören wollte. Denn man wird nicht ernst genommen, wenn man gleichzeitig über Netzwerkkabel gebeugt ist, und kreative Visionen verkaufen will. Also wechselte er die Bühne und griff zu den besten Mitteln, die er damals finden konnte: handliche DSLRs für den Dreh, YouTube als Plattform, und ein paar Freunde, die genauso hungrig waren wie er.

Mandoob

Ich hatte befürchtet, dass die Leute nicht interessiert am düsteren Genre wären, aber das Gegenteil war der Fall. Es war so, als würden sie sagen: Danke, darauf haben wir gewartet

So entstand Telfaz11 – eine digitale Kreativmaschine, die eine ganze Generation prägte. Mit kurzen Webshows, trockenem Humor und einer unverstellten Art, saudisches Alltagsleben zu porträtieren, erarbeitete sich das Team eine Fanbasis, die Woche für Woche wuchs. Plötzlich sahen Saudis sich selbst – nicht gefiltert, nicht ironisch aus der Distanz, sondern so, wie sie wirklich sind: widersprüchlich, observierend, liebenswert chaotisch, nachdenklich, modern und gleichzeitig verbunden mit Traditionen. Die Kultserie „Khambalah“ wurde zum Dauerhit und zu einer Art kulturellem Archiv jener Jahre, in denen junge Saudis lernten, über sich selbst zu lachen und gleichzeitig ihren eigenen Platz in der Medienwelt einzunehmen.

Kalthami drehte nie für Festivaljurys oder Kritiker, sondern für Menschen, die seine Filme verstehen sollen, ohne dafür den Download eines Fachlexikons zu brauchen. Wenn seine Mutter den Film nicht nachvollziehen könnte, sagt er, dann müsse er noch einmal ran. Das bedeutet nicht, dass seine Werke simpel sind. Im Gegenteil – sie sind vielschichtig, sozial durchdrungen, politisch seismografisch, aber sie sprechen die Sprache derer, die sie porträtieren: verständlich, direkt, nah am Leben, aber vor allem – menschlich.

Seit der Wiedereröffnung der Kinos hat sich die saudische Filmszene mit einer Geschwindigkeit professionalisiert, die selbst Branchenkenner überrascht. Filmstudios entstehen, Streaming-Giganten klopfen an, internationale Crews reisen in neue Filmsets in Neom und AlUla, während lokale Talente zum ersten Mal Geschichten aus ihrer eigenen Perspektive auf die große Leinwand bringen. Es ist nicht nur ein kreatives Erwachen, sondern eine kulturelle Neubemessung: Wer sind wir? Was haben wir zu erzählen? Und wie zeigen wir der Welt, dass unser Alltag jenseits von Stereotypen funktioniert?

Kalthami spürt diese Fragen – und er weiß, dass Regisseure aus Saudi-Arabien oft mit Erwartungen von Journalisten konfrontiert werden, die Kollegen anderswo nicht haben. Manchmal wird er gefragt, was er „aussagen“ will, während er eigentlich nur zeigen möchte, wie Menschen leben, wenn sich ihre Stadt, ihre Arbeit und ihr Blick auf die Welt in Echtzeit ändern. Er meidet große Gesten. Seine Haltung ist fast dokumentarisch: genau hinschauen, nichts beschönigen, aber auch nichts künstlich dramatisieren.

Man könnte also sagen: Saudi-Arabien hat 2018 nicht einfach nur das Kino zurückgebracht – es hat Menschen wie Ali Kalthami die Gelegenheit gegeben, eine neue Ära einzuläuten. Und er hat sie genutzt. Die Lichter sind wieder an, der Zuschauerraum füllt sich, und der Mann, der einst ohne Leinwand aufwuchs, sitzt heute in der ersten Reihe – mit Kamera, Haltung und Geschichten, die erst anfangen, wirklich laut zu werden #

Image
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

mehr
Reisezug durch die Wüste
508959

Reisezug durch die Wüste

Ein neuer Orientexpress soll durch das zentrale Saudi-Arabien führen

mehr
Noura Bin Saidans‘ bunte Revolution

Noura Bin Saidans‘ bunte Revolution

Kultureller Wandel mit der Sprühdose

Bleiben Sie neugierig:
Total
0
Share