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The Line: Stadt aus der Zukunft…

Gestrandet in der Gegenwart

Foto: NEOM-Entwicklungsgesellschaft, Redaktion

Die Beamtin, sie ist vorschriftsmäßig verhüllt in schwarzer Abaya und Gesichtsschleier, blättert durch meinen Reisepaß. Ich bin gerade gelandet, am Flughafens von Riyadh. Sie hält inne, hat einige saudische Stempel in meinem Paß entdeckt, schaut mich kurz an, nickt „oh…Nium…nice!“ sagt sie, ihre Augen leuchten kurz, und schon knallt sie ihren Stempel auf die gleiche Seite. Ihr sind die Stempel ihrer Kollegen vom Flughafen Neom Bay aufgefallen, das hat ihr gefallen. Die Saudis sind stolz auf dieses Riesenprojekt, durch welches das Königreich seit einigen Jahren weltweit in aller Munde ist. Eine Vision sollte es sein für ein Lebensmodell der Zukunft – kompakt, vernetzt, nachhaltig.

In einer abgelegenen Ecke Saudi-Arabiens, nah an den Grenzen zu Jordanien und Israel, mit Blick übers Meer hinüber nach Ägypten – dort wurde ein Projekt geboren, das wie Science-Fiction klingt: The Line, so etwas wie die zukünftige Hauptstadt der riesigen Region Neom am Roten Meer. Zwei schnurgerade Hochhäuser sollten es werden, die sich parallel durch Berge, Täler und Geröllwüste ziehen – so groß gedacht, dass man kaum wusste, ob man eine Stadt plant oder ein Monument der Zukunft:

Als Mohammed bin Salman 2017 zum Kronprinzen wurde, änderte sich das Tempo im Königreich drastisch. Schon dessen Vater, König Salman ibn Abdulaziz Al Saud, hat sein Leben in den Dienst des Staates gestellt, hat im Hintergrund viele Modernisierungen angestoßen. Gesundheitlich angeschlagen, legte der König die Umsetzung seiner Ideen gerne in die Hände des Thronfolgers. Der entwickelte sie weiter, schuf seine „Vision 2030“. Tradition schlug um in eine Ära der Modernisierung – ehrgeizig, kontrovers und von dem Ziel getragen, Saudi-Arabien mittelfristig aus der Abhängigkeit vom Öl zu befreien. Die Region Neom sollte Labor, Leinwand und stärkste Symbol dafür werden: futuristisch, vernetzt, kühn…

Neom war einer der ersten großen Schritte, und The Line ihr kühnster. Statt der zuerst konventionell geplanten Stadt für mehrere Millionen neuer Einwohner, wurde der ursprüngliche Entwurf kurzerhand „zusammengefaltet“ – in zwei parallele Spiegelwände aus Stahl und Glas, 200 Meter breit, das Dach durchgehend auf 500 Meter über dem Meer, 170 Kilometer lang. Ein bewohnter Wolkenkratzer, der wie ein hypermodernes Lineal durch die Wüste gezogen worden wäre. Der Kronprinz selbst gab den Auftrag, die Fläche zu nehmen, sie „zusammenzuklappen“ und in zwei parallel verlaufende, spiegelnde Türme zu übersetzen.

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Oben: Blick über Neom, wo The Line hätte am Horizint durchlaufen sollen, Mitte: die geplante Spiegelfassade,
Unten: Fundamentbau am Küstenabschnitt von The Line, Blickrichtung ins Landesinnere

Für viele Architekten, Ingenieure und Designer fühlte sich das wie eine Einladung an, an dieser Vision mitzuwirken, wie ein Ruf zu einem historischen Experiment. Mehrere Tausend Spezialisten packten ihre Koffer – und zogen in die Einöde. Ihr Alltag war überraschend bodenständig: sie arbeiteten in modernen, doch einfachen Büro-Baracken und wohnten in temporären Häuschen mit Garten oder in gleichförmigen Wohnkabinen. Es gab dreimal am Tag ein gemeinsames Essen in der Kantine auf Niveau eines 4-Sterne-Hotels, während tagsüber Entscheidungen getroffen wurden, die die Stadtplanung dieses Jahrhunderts neu definieren könnten.

Der Zeitplan? So mutig wie das Projekt selbst. Bereits 2030 sollten 16 Kilometer von The Line stehen, das erste Modul bereits 2025 bezugsfertig sein. Schon ein einzelnes Segment von nicht mal einem Kilometer – wäre größer als alles, was Menschen bislang bewohnten. Das Budget vervierfachte sich, wuchs an zu einem unvorstellbaren Geldbedarf. Eine futuristische Stadt kostet eben futuristisches Geld.

Von Anfang an sollten die Investitionen auch vom Ausland getragen werden. Internationale Hotelpartner wollte man gewinnen um den Tourismus in Neom aufzubauen. Ausländische Unternehmen sollten mit finanziellen Vergünstigungen und rechtlichen Erleichterungen ihre saudischen Niederlassungen in Neom gründen. Das hat nicht funktioniert wie erhofft – Geldgeber senden eben keinen Scheck, nur weil sie eine schöne Computeranimation gesehen haben. Wirtschafts-Analysten bekamenen keine Fakten, sondern Werbetrailer. Medienvertreter wunderten sich, warum die Neom-Entwicklungsgesellschaft eine personell riesig besetzte Pressestelle hatte – diese aber niemals irgendwelche Anfragen beantwortete. Heute weiß man, warum das so war – es wusste einfach niemand, was man dort eigentlich gerade machte.

Irgendwann mußte man sich in Neom die Frage stellen, die jedes Megaprojekt einholt: Wie viel Zukunft kann sich selbst ein Land im Aufbruch leisten, wenn es alles allein bezahlen muß?

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Oben: Bürogebäude in einer der großen „Communities“ unweit der Baustellen von Neom. Unten: Temporäre Wohnungen
für zig Tausend internationale Fachleute, die vor Ort an der Umsetzung der zahlreichen Projekte arbeiten

Dabei lagen die echten Herausforderungen nicht nur im Finanzplan. Wie schafft man ein funktionierendes Mikroklima in Mega-Gebäuden, die so noch nie jemand gebaut hat? Wie zirkuliert Meerwasser in einem künstlichen Hafen ohne natürliche Strömungen? Wie fühlt sich der Alltag in einer einzigen, langen Wand aus Metall und Glas überhaupt an? In nächtlichen Teamrunden klang es manchmal fast poetisch. Physiker, Stadtplaner und Designer diskutierten nicht nur Zahlen und Statik, sondern auch Weltbilder.

Die technische Komplexität war so hoch, dass manche Teams mehr Zeit damit verbrachten, das Undenkbare vorstellbar zu machen, als es tatsächlich umsetzbar zu planen. Und die Herausforderungen nahmen von Tag zu Tag zu. Ein Bauprojekt beginnt immer mit klassischen Aufgaben…Baustraßen müssen gepflastert werden, Maschinen gekauft und Erde bewegt werden. Fundamente gebohrt. Doch je mehr klassische Aufgaben erledigt wurden, desto näher kamen die nächsten Schritte – und damit wurden die Fragestellungen schwieriger. Entscheidungen wurden oft auf Basis von Renderings getroffen, weil detaillierte Machbarkeitsstudien noch fehlten. Einer der leitenden Entwickler erinnert sich daran, wie zwei Wissenschaftler sich gegenseitig ansahen und feststellten: „Vielleicht hat jetzt die Zeit der Dichter begonnen.“ Ein schöner Gedanke – denn wer Städte neu erfinden will, muss größer träumen als jede herkömmliche Blaupause erlaubt.

Dann, 2024 wurde die Geschwindigkeit gedrosselt. Baufelder blieben stehen, Module wurden verkürzt, Projektteile eingefroren. Statt 170 Kilometern sollten zunächst nur wenige Kilometer realisiert werden – eine harte Landung für eine Vision, die sich selbst nie in kleinen Zahlen gedacht hatte. Heute stehen die meisten Projekte in der riesigen Region still. Ob es dort weitergeht, oder ob der Wind Sand über die Fundamente wehen wird, bleibt abzuwarten.

Aus dem Flugzeug, wenn man in Neom Bay startet, kann man einen Blick auf das gigantische Bauloch werfen, das vom Meer kommend die ersten Berge durchschneidet und sich dann am Horizont verliert. Es wurden Milliarden verbaut und Dörfer geschliffen – sinnlos, wie man aus heutiger Sicht annehmen muß. Und es wurden Hoffnungen gemacht von einer Vision, die die ganze saudische Bevölkerung mitgenommen hat. Mohammed bin Salman wird im Königreich geliebt für seine Ideen, seine Jugend und Tatkraft. Und dafür, was er tatsächlich schon für sein Volk bewegt hat, für jeden persönlich – fernab vom Stolz auf The Line und Neom.

Die Realität von Neom und The Line anerkennen zu müssen, das wird auch am Thronfolger nicht spurlos vorbei gehen. Saudi-Arabien war nicht groß und stark genug, um diese Vision allein und isoliert zu stämmen. Man hätte das Ausland gebraucht, aber man hätte man das Ausland als Partner mit ins Boot holen müssen, nicht als stiller Geldgeber, dem man nur Powerpoint-Decks und Animationen hinlegt.

An anderer Stelle haben wir auf #SaudiMag dies schon einmal erwähnt: Am Initiator des Ganzen, an Mohammed bin Salman, hat es nicht gelegen. Er ist der Mann der Vision, ja der großen Vision, und er hat die besten Köpfe der Welt geholt, um sie möglich zu machen. Doch anstatt Probleme anzusprechen und sie im besten Falle zu lösen, haben sie ausdauernd ja gesagt und die Hoffungen immer wieder angefeuert…wer sägt schon am Ast, auf dem er sitzt? Und es war ein dicker Ast – zig Milliarden Euro werden aus Saudi-Arabien an Vertragspartner im Ausland geflossen sein, allen voran in die USA und nach Großbritannien. Zu groß waren die Einnahmen, als dass irgend eine Firma diese aufs Spiel gesetzt hätte.

Vielleicht bekommt der Satz eines Physikers dadurch eine neue Bedeutung: Manchmal sind es nicht die fertigen Monumente, sondern die Ideen, die bleiben. Und vielleicht beginnt Zukunft nicht damit, dass man alles vollendet – sondern damit, dass jemand den Mut hat, sie überhaupt zu zeichnen #


Ach, übrigens:

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