Verzögert sich “The Line”?

Wir ordnen die Meldung von Bloomberg ein
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Foto: NEOM Entwicklungsgesellschaft

THE LINE in Saudi-Arabien
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THE LINE in Saudi-Arabien ist das Bauprojekt für eine “lineare” Stadt – eine Planstadt, die von Grund auf neu errichtet wird und sich entlang einer einzigen Linie über 170 Kilometer ausdehnt. Sie wird aus zwei riesigen Gebäuderiegeln gebildet, die im Abstand von 200 Meter stehen. Zwischen den beiden Baukörpern wird eine grüne Oase entstehen. Individualverkehr, wie man ihn heute kennt, wird es in THE LINE nicht mehr geben

Anfang April 2024 kommt das Nachrichtenportal Bloomberg mit einer aufmerksamkeits-starken Meldung: Der Baufortschritt der riesigen, linearen Planstadt THE LINE gerät angeblich ins Stocken. Das wäre noch kein großer Scoop…in Deutschland kann man von verzögerten Bauarbeiten ja nicht nur ein Lied, man kann ganze Arien singen…nein, Bloombergs Meldung ist pikanter. So haben die Amerikaner analysiert, dass das Barvermögen des finanzierenden Fonds im letzten Jahr gesunken ist, und sie berufen sich auf eine anonyme Quelle, nach welcher 2030 in THE LINE nur rund 300.000 Menschen leben werden – anstatt 1 Million. Eine Baufirma habe sogar Mitarbeiter entlassen; alle anderen Projekte aber laufen nach Plan.

Puh, das klingt wieder sehr danach, dass #SaudiMag hier einmal mehr die vielen losen Fäden sortieren sollte. Also:

Was ist dran an der Meldung von Bloomberg? (Achtung, Spoiler!)

Achtung, Spoiler: Bloombergs’ Meldung ist vor allem: Clickbait. Denn es werden ein paar Analysen, zweifelhafte Quellen und sogar ein paar Fakten so miteinander vermischt, dass am Ende schon das herauskommt, was man berichten möchte. Man muss erst einmal wissen, dass die Vision der modularen Planstadt THE LINE, die im Nordwesten nah der jordanischen Grenze in atemberaubendem Tempo aus dem Nirgendwo gestampft werden soll, von Anfang an die Gemüter erregt hat. Kaum, daß die ersten Bilder der Konzeptplanung veröffentlicht waren, zweifelten unbeteiligte Städteplaner den inhaltlichen Sinn einer 170 Kilometer langen Stadt, die im wesentlichen aus zwei parallel verlaufenden Gebäuderiegeln besteht, leidenschaftlich an. Bauingenieure aus aller Welt hielten die technische Machbarkeit für unmöglich. Meldungen, die die Emotionen anfeuern, verkaufen sich gut. Seit 2022 wird für THE LINE tatsächlich Sand bewegt – die Arbeiten am Fundament haben eine Baugrube in unfassbarem Ausmaß entstehen lassen, die sich nicht übersehen läßt. #SaudiMag hat in verschiedenen Geschichten darüber berichtet, z.B. hier: #saudimag

Ziel der Planungen ist es, dass die neue Stadt THE LINE im Jahr 2050 Heimat für rund neun Millionen Menschen in der Region NEOM sein wird. Die Stadt ist als eine lange Linie geplant, die aus zahlreichen Modulen bestehen wird, die ähnlich einem Eisenbahnzug vom Roten Meer ins Landesinnere aneinander gereiht werden. Erste Bauabschnitte, beginnend an der Küste, sollen bereits im Jahr 2030 für eine Millionen Menschen bezugsfertig sein. Finanziert wird das Riesenprojekt zum größten Teil vom saudi-arabischen Public Investment Fonds (PIF) unter Teilnahme internationaler Geldgeber. In der Region NEOM ist THE LINE eine Baustelle von vielen, allerdings das größte Projekt, das zugleich Arbeits-, Lebens- und Wohnraum bieten wird, also eine autarke Stadt sein soll. Die Gesamt-Investitionen in NEOM werden bis 2030 auf 350 bis 500 Milliarden Euro geschätzt – belastbare Zahlen liegen allerdings nicht vor.

Mohammed Al Jadaan

Es wird ein längerer Zeitraum benötigt, um Fabriken zu bauen und ausreichende Humanressourcen aufzubauen. Die Verlängerung einiger Projekte wird der Wirtschaft dienen

Mohammed Al Jadaan, saudi-arabischer Finanzminister

Bloomberg baut seine Meldung auf einer Analyse der aktuellen Finanzkraft des PIF auf, der seit Herbst 2023 eine Reihe von Optionen prüft, um Barmittel zu beschaffen – einschließlich der Beschleunigung von Schuldenverkäufen und der Vorbereitung von Aktienangeboten in seinen Portfolio-Unternehmen. Die Barreserven des Public Investment Fonds sind Bloomberg’s Analysten zufolge auf den niedrigsten Stand seit 2020 gefallen. Allerdings ist das wenig verwunderlich. Der Sinn des PIF ist die Finanzierung von Projekten aus dem Regierungsprogramm “Vision 2030”, mit der das Königreich umfassend modernisiert werden soll. Die Projekte, vor wenigen Jahren angetreten, nehmen nun Fahrt auf und gehen zunehmend von ihren Planungsphasen in die Umsetzung über. Das kostet Geld, welches den Kassenbestand verringert, vermutlich langfristig.

Die Meldung, dass THE LINE verkürzt werden soll, ist nun tatsächlich Clickbait. Die modulare Konzeption der Stadt ist nicht nur seit langem bekannt – sie ist dem ganzen Projekt immanent. Denn die Form einer Linie wurde gewählt, um die Stadt mit dem Bedarf wachsen zu lassen – neue Module können die Stadt an einem Ende fortsetzen, wenn es soweit ist. Saudi-Arabien plant mit einem Bevölkerungswachstum um 25 Millionen Einwohner in den kommenden 100 Jahren, mit allen Konsequenzen und Anforderungen, die dieses an einen Staat stellt. Man denke nur an Arbeitsplätze, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsdienste und Wohnraum.

Die Stadt ist auf eine Länge von 170 Kilometer angelegt, aber das ist ein Fernziel. Tatsächlich werden Ausschachtungen und sinnvolle logistische Vorbereitungen heute schon über die ganze Länge gemacht – ähnlich, wie man beim Bau eines U-Bahnsystems auch schon Vorbereitungen für zukünftige Bahnhöfe trifft. THE LINE wird bedarfsgerecht gebaut, der Erstbezug wird nah der Küste erfolgen, das war schon immer geplant und hat keinen Nachrichtenwert. Tatsächlich ist aber eine Aussage der – allerdings anonymen – Quelle interessant, die Bloomberg zitiert: Die Einwohnerzahl von THE LINE soll bei Fertigstellung 2030 zwei Drittel unter dem bisher kommunizierten Wert liegen – 300.000 anstatt 1 Million Einwohner. Das wäre tatsächlich eine News, denn nach Einschätzung der #SaudiMag-Redaktion wird der Bedarf an Wohnraum in der Region NEOM zum Ende des Jahrzehnts weit darüber liegen, und eine Million Einwohner erscheint naheliegend. Aber, was soll man von anonymen Quellen halten?

Bloomberg schreibt selbst, dass der Baufortschritt anderer Projekte in NEOM gemäß Zeitplan fortgesetzt wird; das Insel-Resort Sindalah im Roten Meer vor der Baustelle von THE LINE sei noch immer auf dem besten Weg, als erstes NEOM-Projekt schon in wenigen Monaten eröffnet zu werden. Dass der Zeitplan im Hinblick auf die gigantischen Ausmaße aller Arbeiten in NEOM herausfordernd ist, liegt auf der Hand. Nicht nur, weil Bauarbeiten immer ein unplanbares Moment beinhalten (vgl. alle deutschen Großprojekte der letzten zehn Jahre), sondern auch, weil schlichtweg zunehmend Ressourcen fehlen – angefangen bei Bauarbeitern, bis hin zu den notwendigen Maschinen. Indien und Pakistan sind die beiden Länder, in denen Saudi-Arabien einen großen Teil seiner Arbeitskräfte für die zahlreichen Baustellen anwirbt. Mit immer besseren Konditionen. Denn vor allem in Indien befindet sich die Bauwirtschaft selbst im Aufstieg; Arbeitskräfte folgen nicht mehr jedem Angebot aus Saudi-Arabien. Auch NEOM sieht sich veranlasst, die Gehälter zu erhöhen, die Arbeitszeiten auf seinen Baustellen zu verringern und neue Anreize zu bieten. Bereits gibt es Werbevideos, die mit den modernen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter in NEOM werben, um in Pakistan neue Mitarbeiter zu rekrutieren.

Die #SaudiMag-Redaktion sieht das ganze Thema THE LINE ohnehin etwas weniger verkniffen – dieses Projekt ist eine spannende Vision, die neue Wege der Vernetzung von Leben und Arbeiten in einer multinationalen Umgebung erforschen will. Visionen bringen die Menschheit voran. Es ist großartig, wenn jemand einen erstem Schritt tut – insbesondere dann, wenn dieser Schritt so viele Menschen in Lohn und Arbeit bringt #

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