Foto: NEOM Entwicklungsgesellschaft, Redaktion
Das Nachrichtenportal Bloomberg kommt mit einer aufmerksamkeitsstarken Meldung: Der Baufortschritt der riesigen, linearen Planstadt „The Line „gerät ins Stocken…
Das wäre aber noch kein Scoop, vor allem bei einem Bauprojekt in diesem Ausmaß. Kann man doch gerade in Deutschland von verzögerten Bauarbeiten nicht nur ein Lied, man kann ganze Arien singen…nein, Bloombergs Meldung ist pikanter. So haben die Amerikaner analysiert, dass das Barvermögen des finanzierenden Fonds im letzten Jahr gesunken ist, und sie berufen sich auf eine anonyme Quelle, nach welcher 2030 in The Line nur rund 300.000 Menschen leben werden – anstatt 1 Million. Eine Baufirma habe sogar Mitarbeiter entlassen. Alle anderen Projekte aber würden nach Plan laufen.
Das klingt wieder sehr danach, dass #SaudiMag hier einmal mehr die vielen losen Fäden sortieren sollte.
Was ist dran an der Meldung von Bloomberg?
Die Vision der modularen Planstadt, die im Nordwesten nah der jordanischen Grenze in atemberaubendem Tempo aus dem Nirgendwo gestampft werden soll, hat von Anfang an die Gemüter erregt. Kaum, daß die ersten Bilder der Konzeptplanung veröffentlicht waren, begannen die Fern-Diagnosen unbeteiligter Städteplaner. Leidenschaftlich wurde der Sinn einer 170 Kilometer langen Stadt, die im wesentlichen aus zwei parallel verlaufenden Gebäuderiegeln besteht, angezweifelt. Bauingenieure aus aller Welt hielten die technische Machbarkeit für unmöglich. Meldungen, die die Emotionen anfeuern, verkauften sich gut. Seit 2022 wird für „THE LINE“ tatsächlich Sand bewegt – die Arbeiten am Fundament haben eine Baugrube in unfassbarem Ausmaß entstehen lassen. #SaudiMag hat mehrfach berichtet, unter anderem hier: #saudimag .
Ziel der Planungen ist es, dass die neue Stadt im Jahr 2050 Heimat für rund neun Millionen Menschen in der Region NEOM sein soll. Die lange Linie wird aus zahlreichen Modulen bestehen, die ähnlich einem Eisenbahnzug vom Roten Meer ins Landesinnere aneinander gereiht werden. Ziel ist es, die ersten Module, beginnend an der Küste, im Jahr 2030 für eine Million Menschen bezugsfertig zu haben.
Finanziert wird das Riesenprojekt zum größten Teil vom saudi-arabischen Public Investment Fonds (PIF) unter Teilnahme internationaler Geldgeber. Die saudische Regierung bemüht sich, ausländische Investoren zu gewinnen. Der Erfolg dieser Bemühungen hängt allerdings den Erwartungen hinterher. In der Region NEOM ist „THE LINE“ eine Baustelle von vielen, allerdings das größte Projekt, das zugleich Arbeits-, Lebens- und Wohnraum bieten wird, also eine autarke Stadt sein soll. Die Gesamt-Investitionen in NEOM werden bis 2030 auf über eine Billion Euro geschätzt – belastbare Zahlen, die nur „THE LINE“ betreffen, liegen allerdings nicht vor.
Bloomberg baut seine Meldung auf einer Analyse der aktuellen Finanzkraft des PIF auf, der seit Herbst 2023 eine Reihe von Optionen prüft, um Barmittel zu beschaffen – einschließlich der Beschleunigung von Schuldenverkäufen und der Vorbereitung von Aktienangeboten in seinen Portfolio-Unternehmen. Die Barreserven des Public Investment Fonds sind Bloomberg’s Analysten zufolge auf den niedrigsten Stand seit 2020 gefallen. Allerdings ist das wenig verwunderlich. Der Sinn des PIF ist die Finanzierung von Projekten aus dem Regierungsprogramm „Vision 2030“, mit der das Königreich umfassend modernisiert werden soll. Die Projekte, vor wenigen Jahren angetreten, nehmen nun Fahrt auf und gehen zunehmend von ihren Planungsphasen in die Umsetzung über. Das kostet Geld, welches den Kassenbestand verringert, vermutlich langfristig. Analysten schätzen, dass der PIF zusätzlich fast 300 Millionen US-Dollar aufbringen muß, um absehbare Kostensteigerungen zu decken.
Es wird ein längerer Zeitraum benötigt, um Fabriken zu bauen und ausreichende Humanressourcen aufzubauen. Die Verlängerung einiger Projekte wird der Wirtschaft dienen
Mohammed Al Jadaan, saudi-arabischer Finanzminister
Die Meldung, dass „THE LINE“ verkürzt werden soll, ist nun tatsächlich Clickbait. Die modulare Konzeption der Stadt ist nicht nur seit langem bekannt – sie ist dem ganzen Projekt immanent. Denn die Form einer Linie wurde gewählt, um die Stadt mit dem Bedarf wachsen zu lassen – neue Module können die Stadt an einem Ende fortsetzen, wenn es soweit ist. Saudi-Arabien plant mit einem Bevölkerungswachstum um 25 Millionen Einwohner in den kommenden 100 Jahren, mit allen Konsequenzen und Anforderungen, die dieses an einen Staat stellt – Arbeitsplätze, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsdienste und Wohnraum.
Die Stadt ist auf eine Länge von 170 Kilometer angelegt, aber das ist ein Fernziel. Tatsächlich werden Ausschachtungen und Tunnels für einen Highspeed-Zug, sowie sinnvolle logistische Vorbereitungen heute schon über eine große Länge vorangetrieben. Das folgt einem Effizient-Denken, ähnlich, wie man beim Bau jedes U-Bahnsystems auf der Welt schon Vorbereitungen für zukünftige Bahnhöfe trifft. „THE LINE“ wird bedarfsgerecht gebaut, der Erstbezug wird nah der Küste erfolgen, das war schon immer geplant und hat keinen Nachrichtenwert. Tatsächlich ist aber eine Aussage der – allerdings anonymen – Quelle interessant, die Bloomberg zitiert: Die Einwohnerzahl soll bei Fertigstellung 2030 zwei Drittel unter dem bisher kommunizierten Wert liegen – 300.000 anstatt 1 Million Einwohner. Das wäre tatsächlich eine News, denn nach Einschätzung der #SaudiMag-Redaktion wird der Bedarf an Wohnraum in der Region NEOM zum Ende des Jahrzehnts weit darüber liegen, und eine Million Einwohner erscheint naheliegend – wir hatten das bereits in einer früheren Story eingeordnet:
Bloomberg schreibt selbst, dass der Baufortschritt anderer Projekte in NEOM gemäß Zeitplan fortgesetzt wird; das Insel-Resort Sindalah im Roten Meer vor der Baustelle von THE LINE sei noch immer auf dem besten Weg, als erstes NEOM-Projekt schon in wenigen Monaten eröffnet zu werden.
Daß der Zeitplan im Hinblick auf die gigantischen Ausmaße aller Arbeiten in NEOM herausfordernd ist, liegt auf der Hand. Nicht nur, weil Bauarbeiten immer ein unplanbares Moment beinhalten (vgl. alle deutschen Großprojekte der letzten zehn Jahre), sondern auch, weil schlichtweg zunehmend Ressourcen fehlen – angefangen bei Bauarbeitern, bis hin zu den notwendigen Maschinen. Indien und Pakistan sind die beiden Länder, in denen Saudi-Arabien einen großen Teil seiner Arbeitskräfte für die zahlreichen Baustellen anwirbt. Mit immer besseren Konditionen. Denn vor allem in Indien befindet sich die Bauwirtschaft selbst im Aufstieg; Arbeitskräfte folgen nicht mehr jedem Angebot aus Saudi-Arabien. Auch NEOM sieht sich veranlasst, die Gehälter zu erhöhen, die Arbeitszeiten auf seinen Baustellen zu verringern und neue Anreize zu bieten. Bereits gibt es Werbevideos, die mit den modernen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter in NEOM werben, um in Pakistan neue Mitarbeiter zu rekrutieren.
Die #SaudiMag-Redaktion sieht das ganze Thema ohnehin etwas weniger verkniffen – dieses Projekt ist eine spannende Vision, die neue Wege der Vernetzung von Leben und Arbeiten in einer multinationalen Umgebung erforschen will. Visionen bringen die Menschheit voran. Es ist großartig, wenn jemand einen erstem Schritt tut – insbesondere dann, wenn dieser Schritt so viele Menschen in Lohn und Arbeit bringt #
Aktualisierung unseres Artikels: Wir schreiben hier in unserem Artikel (vom Frühjar 2024), das Inselresort Sindalah sei auf bestem Weg, pünktlich eröffnet zu werden. Fakt ist, die Eröffnung wurde in den letzten Jahren von der NEOM-Entwicklungsgesellschaft offiziell mit „Early/Mid 2024“ angegeben. Dieser Termin ist offensichtlich nicht haltbar, und sich die Fertigstellung von Sindalah zu verzögern (August 2024)