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Verzögert sich „The Line“?

Neom dampft den Stadtbau ein

Foto: NEOM Entwicklungsgesellschaft, Redaktion

Das Nachrichtenportal Bloomberg kommt mit einer aufmerksamkeitsstarken Meldung: Der Baufortschritt der riesigen, linearen Planstadt „The Line“ gerät ins Stocken…

Die Vision der modularen Planstadt, die im Nordwesten nah der jordanischen Grenze in aus dem Nirgendwo gestampft werden soll, hat von Anfang an die Gemüter erregt. Kaum, daß 2017/18 die ersten Bilder der Konzeptplanung veröffentlicht waren, begannen die Fern-Diagnosen. Leidenschaftlich wurde der Sinn einer 170 Kilometer langen Stadt, die im wesentlichen aus zwei parallel verlaufenden Gebäuderiegeln besteht, angezweifelt. Bauingenieure aus aller Welt hielten die technische Machbarkeit für unmöglich. Meldungen, die die Emotionen anfeuern, verkauften sich gut. Seit 2022 wird für „THE LINE“ tatsächlich Sand bewegt – die Arbeiten am Fundament haben eine Baugrube in unfassbarem Ausmaß entstehen lassen.

Die aktuelle Meldung wäre aber noch kein Scoop, vor allem bei einem Bauprojekt in diesem Ausmaß. Kann man doch gerade in Deutschland von verzögerten Bauarbeiten nicht nur ein Lied, man kann ganze Arien singen…nein, Bloombergs Meldung ist pikanter. So haben die Amerikaner analysiert, dass das Barvermögen des finanzierenden Fonds im letzten Jahr gesunken ist, und sie berufen sich auf eine anonyme Quelle, nach welcher 2030 in THE LINE nur rund 300.000 Menschen leben sollen – anstatt 1 Million. Eine Baufirma habe sogar Mitarbeiter entlassen. Alle anderen Projekte aber würden nach Plan laufen.

Tlbild

THE LINE in Saudi-Arabien ist das Bauprojekt für eine „lineare“ Stadt – eine Planstadt, die von Grund auf neu errichtet wird und sich entlang einer einzigen Linie über 170 Kilometer ausdehnt. Sie wird aus zwei riesigen Gebäuderiegeln gebildet, die im Abstand von 200 Meter stehen. Zwischen den beiden Baukörpern wird eine grüne Oase entstehen. Individualverkehr, wie man ihn heute kennt, wird es in THE LINE nicht mehr geben
THE LINE in Saudi-Arabien

Was ist dran an der Meldung von Bloomberg?

Schaut man sich die schon 2017/18 präsentierten Konzeptplanungen an, so ist die modulare Konzeption der Stadt dem ganzen Projekt immanent. Denn die Form einer Linie wurde gewählt, um die Stadt mit dem Bedarf wachsen zu lassen – neue Module können die Stadt an einem Ende fortsetzen, wenn es soweit ist. Saudi-Arabien plant mit einem Bevölkerungswachstum um 25 Millionen Einwohner in den kommenden 100 Jahren, mit allen Konsequenzen und Anforderungen, die dieses an einen Staat stellt – Arbeitsplätze, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsdienste und Wohnraum. Die lange Linie soll aus zahlreichen Modulen bestehen, die ähnlich einem Eisenbahnzug vom Roten Meer ins Landesinnere aneinander gereiht werden. Ziel war es immer, die ersten Module, beginnend an der Küste, im Jahr 2030 für eine Million Menschen bezugsfertig zu haben. Ziel war es nie, die ganze Länge sofort fertigzustellen. Dies wollen wir, der Faktenliebe wegen, hier feststellen.

Finanziert wird das Riesenprojekt zum größten Teil vom saudi-arabischen Public Investment Fonds (PIF) unter Teilnahme internationaler Geldgeber. Die saudische Regierung bemüht sich, ausländische Investoren zu gewinnen. Der Erfolg dieser Bemühungen hinkte allerdings immer den Erwartungen hinterher. In der Region Neom ist „THE LINE“ eine Baustelle von vielen, allerdings das größte Projekt, das zugleich Arbeits-, Lebens- und Wohnraum bieten wird – also eine autarke Stadt sein soll. Die notwendigen Gesamt-Investitionen in der Region (worin The Line ein Projekt ist) werden bis 2030 auf anderthalb Billionen Euro geschätzt.

Bloomberg baut seine Meldung auf einer Analyse der aktuellen Finanzkraft des PIF auf, der seit geraumer Zeit mit wachsender Hektik Optionen prüft, um weitere Barmittel zu beschaffen – einschließlich der Beschleunigung von Schuldenverkäufen und der Vorbereitung von Aktienangeboten in seinen Portfolio-Unternehmen. Die Barreserven des Public Investment Fonds sind Bloomberg’s Analysten zufolge auf den niedrigsten Stand seit 2020 gefallen.

Mohammed Al Jadaan

Es wird ein längerer Zeitraum benötigt, um Fabriken zu bauen und ausreichende Humanressourcen aufzubauen. Die Verlängerung einiger Projekte wird der Wirtschaft dienen

Mohammed Al Jadaan, saudi-arabischer Finanzminister

Die Stadt ist auf eine Länge von 170 Kilometer angelegt, aber das ist ein Fernziel. Tatsächlich werden Ausschachtungen und Tunnels für einen Highspeed-Zug, sowie sinnvolle logistische Vorbereitungen heute schon über eine große Länge vorangetrieben. Das folgt einem Effizient-Denken, ähnlich, wie man beim Bau jedes U-Bahnsystems auf der Welt schon Vorbereitungen für zukünftige Bahnhöfe trifft. THE LINE wird bedarfsgerecht gebaut, der Erstbezug wird nah der Küste erfolgen, das war schon immer geplant. Tatsächlich ist aber eine Aussage der – allerdings anonymen – Quelle interessant, die Bloomberg zitiert: Die Einwohnerzahl soll bei Fertigstellung 2030 zwei Drittel unter dem bisher kommunizierten Wert liegen – 300.000 anstatt 1 Million Einwohner.

Tatsächlich wird sich die Neom-Entwicklungsgesellschaft auf den Bau weniger Module fokussieren, die nach wie vor an der Küste liegen. Ob dies allerdings die Module in der Nähe des Insel-Resorts Sindalah betrifft, oder eher in Richtung des Dorfes Gayal sein wird, scheint momentan noch offen. Dort sind überall die Arbeiten an den Fundamenten bereits weit fortgeschritten.

Daß der Zeitplan im Hinblick auf die gigantischen Ausmaße aller Arbeiten in Neom herausfordernd ist, liegt auf der Hand. Nicht nur, weil Bauarbeiten immer ein unplanbares Moment beinhalten (vgl. alle deutschen Großprojekte der letzten Jahre), sondern auch, weil schlichtweg zunehmend Ressourcen fehlen – angefangen bei Bauarbeitern, bis hin zu den notwendigen Maschinen. Indien und Pakistan sind die beiden Länder, in denen Saudi-Arabien einen großen Teil seiner Arbeitskräfte für die zahlreichen Baustellen anwirbt. Mit immer besseren Konditionen. Denn vor allem in Indien befindet sich die Bauwirtschaft selbst im Aufstieg; Arbeitskräfte folgen nicht mehr jedem Angebot aus Saudi-Arabien. Auch Neom sieht sich veranlasst, die Gehälter zu erhöhen, die Arbeitszeiten auf seinen Baustellen zu verringern und neue Anreize zu bieten. Bereits gibt es Werbevideos, die mit den modernen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter in Neom werben, um in Pakistan neue Mitarbeiter zu rekrutieren.

Die #SaudiMag-Redaktion sieht das ganze Thema etwas weniger verkniffen – dieses Projekt ist eine spannende Vision, die neue Wege der Vernetzung von Leben und Arbeiten in einer multinationalen Umgebung erforschen will. Visionen bringen die Menschheit voran. Es ist großartig, wenn jemand einen erstem Schritt tut – insbesondere dann, wenn dieser Schritt so viele Menschen in Lohn und Arbeit bringt #

Comments 1
  1. Aktualisierung unseres Artikels: Wir schreiben hier im Frühjar 2024, das Inselresort Sindalah sei auf bestem Weg, pünktlich eröffnet zu werden. Fakt ist, die Eröffnung wurde in den letzten Jahren von der NEOM-Entwicklungsgesellschaft offiziell mit „Early/Mid 2024“ angegeben. Jetzt, im August 2024 ist klar, dass dieser Termin offensichtlich nicht haltbar ist, und sich die Fertigstellung von Sindalah verzögern wird.

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