Foto: Königliche Kommission Alula, Max-Planck-Institut Jena, University Western Australia
Tief in der saudischen Wüste liegen Hunderte gewaltige Steinrechtecke, manche so lang wie sechs Fußballfelder. Niemand weiß genau, wer sie gebaut hat – oder warum. Doch neue Forschungen deuten darauf hin, dass diese „Mustatils“ zu den ältesten rituellen Monumenten der Menschheit gehören – entstanden in der späten Jungsteinzeit, einer Epoche, als Nordarabien noch grün war.
Wer durch die endlosen Weiten Nordsaudi-Arabiens blickt, ahnt kaum, dass sich hier – zwischen Felsplateaus und Sandebenen – einige der ältesten Monumente der Menschheitsgeschichte verbergen. Riesige, rechteckige Steinstrukturen, von denen manche bis zu 600 Meter lang sind. Still, geheimnisvoll – und älter als die Pyramiden in Ägypten. Sie heißen Mustatil, das arabische Wort für „Rechteck“, und geben Archäologen bis heute Rätsel auf. Mehrere Tausend Jahre muss es her sein, da war Nordarabien noch grün, und Hirtenvölker bewegten sich mit ihren Tieren durch grasbewachsene Täler, als Menschen anfingen, hier monumentale Steinbauten zu errichten. Niedrige Mauern, aufgetürmt aus rohen Steinen, verbunden durch lange parallele Wände – präzise, aber ohne erkennbaren praktischen Zweck. Waren es Tempel? Versammlungsorte? Oder schlicht gigantische Symbole des Zusammenhalts?



Mustatil-Monumentalbauten erreichen eine Seitenlänge bis 600 Meter. Ihr Zweck ist noch unbekannt
Forschungen der Universität Sidney und der Max-Planck-Gesellschaft, gemeinsam mit saudischen Partnern zeigen: Diese Bauten könnten die frühesten rituellen Monumente der Menschheit sein – errichtet von Gemeinschaften, die ihre Welt durch Stein, Glauben und Zusammenarbeit formten.„Vielleicht wurden hier Feste gefeiert oder Tiere geopfert“, sagt Dr. Huw Groucutt, zum Zeitpunkt der Felderkundungen Leiter der Max-Planck-Forschungsgruppe Extreme Events in Jena. Gemeinsam mit weiteren internationalen Archäologen hat er die bislang umfassendste Studie über die mysteriösen Steinbauten durchgeführt – im Rahmen des Green Arabia Project, das die frühe Geschichte der arabischen Halbinsel neu schreibt. Durch die Kombination von Feldvermessungen und der Analyse von Satellitenbildern hat das Forschungsteam sein Wissen über diese rätselhaften Steinmonumente erheblich erweitern können.
Mehr als einhundert Mustatil-Bauten wurden am Südrand der Nefud-Wüste, zwischen den Städten Ha’il und Tayma, identifiziert. Sie reihen sich damit in weitere Hunderte dieser Monumentalbauten ein, die zuvor bei der Auswertung von Google Earth-Bildern, insbesondere in der Gegend von Khaybar, entdeckt wurden. Das Team fand heraus, dass Mustatil-Bauten in der Regel aus zwei großen Plattformen bestehen, die durch parallele Längswände verbunden sind und sich manchmal über 600 Meter Länge erstrecken. Die langen Wände sind sehr niedrig, weisen keine offensichtlichen Öffnungen auf und befinden sich in unterschiedlichen Ausrichtungen in der Landschaft. Ungewöhnlich ist auch, dass in der Umgebung dieser Monumentalbauten kaum andere archäologische Kleinfunde, wie etwa Steinwerkzeuge, entdeckt wurden. Zusammengenommen deuten diese Umstände darauf hin, dass es sich bei den Bauten nicht einfach um Nutzgebäude, zum Beispiel für die Lagerung von Wasser oder die Haltung von Tieren, gehandelt hatte.

Wir gehen davon aus, dass es sich bei den Mustatil-Bauten um rituelle Stätten handelt, an denen sich Gruppen von Menschen zu sozialen Aktivitäten trafen. Vielleicht wurden die Stätten für Tieropfer oder Feste genutzt
Dr. Huw Groucutt, Archäologisches Zentrum an der Universität zu Malta
An einer der Stätten gelang den Forschenden sogar eine Radiokohlenstoffdatierung: Holzkohleproben aus dem Inneren einer Plattform zeigten, dass das Bauwerk über 7.000 Jahre alt ist. Zwischen den Steinen fanden sich zudem Tierknochen – von Wildtieren und Hausrindern. Vielleicht von Auerochsen, den wilden Ahnen unserer heutigen Rinder. An einer Stelle stieß man auf einen bemalten Stein mit geometrischem Muster – der älteste bekannte Beweis für symbolische Kunst in der Region. Was die Archäologen besonders fasziniert: Manche Mustatils wurden direkt nebeneinander gebaut. Das lässt vermuten, dass der Bau selbst eine Art rituelle Gemeinschaftsleistung war – ein sozialer Akt, um Zusammenhalt zu schaffen in einer Landschaft, die ebenso schön wie unbarmherzig war. Denn auch wenn zur Bauzeit der Mustatils Nordarabien noch kein endloses Meer aus Sand, sondern eine Savannenlandschaft mit Seen und weidenden Herden war, war doch das Wasser knapp, und Dürreperioden stellten eine ständige Bedrohung dar. Der Bau dieser Monumente könnte daher eine symbolische Antwort gewesen sein – ein Ausdruck von Kontrolle, Glaube und Gemeinschaft in einer Welt, die ständig im Wandel war.
Die Hypothese des Forschungsteams ist, dass der Bau von Mustatilen eine Art sozialer Mechanismus war, um in dieser herausfordernden Landschaft zu leben. Sie sind vielleicht nicht die ältesten Gebäude der Welt, aber für diese frühe Periode der Menschheitsgeschichte, mehr als zweitausend Jahre bevor in Ägypten mit dem Bau von Pyramiden begonnen wurde, wurden sie in einem für diese Zeit einzigartig großen Maßstab gefertigt. Mustatile bieten damit einen faszinierenden Einblick in die Art und Weise, wie die Menschen in schwierigen Umgebungen lebten. Die weitere Untersuchung dieser monumentalen Zeitzeugen kann erheblich dazu beitragen, das Leben dieser frühen menschlichen Gesellschaften besser zu verstehen.
Was bleibt, ist eine stille Faszination: Diese gigantischen Rechtecke aus Stein, errichtet von Händen, die längst zu Staub zerfallen sind, erzählen von einer Zeit, in der der Mensch begann, seine Umgebung nicht nur zu bewohnen – sondern zu formen, zu deuten und zu verewigen #
