Foto: TwentyOne Entertainment
Dieser Film ist mutig. Er rollt seine Geschichte auf zwischen dem Respekt für saudische Empfindlichkeiten und der emotionalen Ansprache eines internationalen Publikums
Cannes, 2024. Zum ersten Mal hat es ein saudi-arabischer Film in die offizielle Auswahl des renommierten Filmfestivals geschafft – ein gewaltiger Meilenstein für die junge filmische Entwicklung des Landes, wo Kinos noch vor zehn Jahren so gut wie unbekannt waren. Der ausgewählte Film “Norah”, bei dem das Nachwuchstalent Tawfik Alzaidi Regie führte, geht denn auch zurück in jene verschlossene Zeit. Er fängt das Wesen Saudi-Arabiens der 1990er Jahre ein. Einer Ära, die von Konservatismus und der Unterdrückung künstlerischer Ausdrucksformen überschattet war.
Eine Story im einsamen Nirgendwo. Zwischen Märchen, Tragik, Hoffnung und Realität
Die Geschichte WEBSITE führt uns in ein kleines Stammesdorf im saudischen Nirgendwo. Mitte der 90er Jahre träumt die junge Frau Norah (das Debut der Schauspielerin Maria Bahrawi aus Jeddah) von einem Leben außerhalb der engen Grenzen ihrer Gemeinschaft. Als der neue Lehrer Nader (Yaqoub Alfarhan) aus der Großstadt kommend im Dorf eintrifft, finden die beiden Seelenverwandten trotz aller Widrigkeiten und der strengen gesellschaftlichen Regeln schnell eine Verbindung, die durch eine gemeinsame Liebe zur Kunst geknüpft wird. Schon Naders Ankunft verursacht Trubel in der täglichen Eintönigkeit der Provinz. Sein schneidiger Filmstar-Look mit einem üppigen Schnurrbart – statt des traditionellen Vollbarts – und seine weltmännische Sonnenbrille sorgen für Aufregung. Sein Auftritt ist ein dramaturgisches Symbol, bringt es doch die Lebensweise der Gemeinschaft hier draußen auf den Punkt. Die Jungen des Dorfes sind begeistert und kreischen vor Aufregung. Solch einen Look haben sie noch nie gesehen.
Sogar die Dorf-Ältesten sind angetan von Nader, denn er will seinen Schülern das Lesen und Schreiben beibringen, anstatt ausschließlich den Koran zu lehren. Das zeigt, das es selbst in einer Gemeinschaft mit vermeindlich vollkommen vernagelten Strukturen immer eine Hoffnung gibt. Klar ist aber auch, dass Naders Ansatz im Dorf nicht ausschließlich auf Gegenliebe stößt. Denn aller Fortschritt, ebenso wie Bücher und Elektrizität, werden von einigen mit Argwohn oder gar Feindseligkeit betrachtet.
Norah und Nader werden sich zum ersten Mal in einem ziemlich offensichtlichen Stück Symbolik als Lichtpunkte in der Dunkelheit bewusst. Beide bleiben bis spät in die Nacht wach, die Lichter in ihren Zimmern brennen in der erdrückenden Wüstendunkelheit. Norah, als Waise zu Tante und Onkel ins Dorf gekommen, zieht sich oft zurück. Sie hört heimlich verbotene Musikkassetten und blättert in ihrer wertvollen Zeitschriftensammlung. Die Verbindung von Norah und Naders ist zweiseitig – so entdeckt der Lehrer dank der jungen Frau seine vergessene Liebe zum Zeichnen wieder.
Als Belohnung für einen Schüler, der bei einem Grammatikquiz gewinnt, wird Nader aufgefordert, seinen Stift zu zücken und ein Porträt des Schülers zu skizzieren. Zufällig ist es ausgerechnet Norahs jüngerer Bruder Nayaf (Abdulrahman Alwafi), der das Quiz für sich entscheidet – und er verdankt seinen Erfolg ihrer Nachhilfe. Zuhause präsentiert Nayaf sein Bildnis. Während die Tante das Portrait als „Teufelswerk“ verurteilt, ist Norah fasziniert. Sie verzehrt sich nach der Idee, ihr eigenes Porträt zeichnen zu lassen und findet Wege, dem Lehrer diesen Wunsch mitzuteilen. Erinnern wir uns: Wir befinden uns Mitte der 1990er Jahre in einem saudischen Dorf im Nirgendwo. Selbst Fotoapparate sind hier äußerst selten, und die Möglichkeit, einen Film entwickeln und Abzüge machen zu lassen, erst recht. Für Nader ist das eine riesige Herausforderung, die er zunächst ablehnt. Denn natürlich ist Norah verschleiert, zeigt aber in einer Reihe von heimlichen Vorbesprechungen ihre Augen. Währenddessen beginnt Thafur (Shayim Alanazi), dem Norah unfreiwillig versprochen ist, zu ahnen, dass etwas nicht stimmt.
Der letzte Akt, in dem die Dorfältesten versuchen, den Einfluss des Lehrers zurückzudrängen, verläuft atemlos und gegen die Uhr. Der Schluss des Filmes bringt die Zuschauer aus einer stellenweise märchenhaft-fiktionalen Handlung zurück in die Realität – während Norahs Porträt in die Welt entlassen wird, ist das Schicksal von Norah selbst weniger sicher.
“Norah” – Produktionsnotizen
Der in Riyadh lebende Alzaidi hat seine Fähigkeiten als Regisseur durch den Dreh von Kurzfilmen entwickelt. Auf Festivals in der ganzen Region konnte er zahlreiche Preise einsammeln; mit Norahs Drehbuch gewann er einen Förderpreis des Daw-Filmwettbewerbs der Saudi Film Commission. Die Red Sea Film Festival Foundation hat Norah zudem mit einem Postproduktionszuschuss unterstützt. Vor dem Hintergrund der uralten Stadt AlUla #SaudiMag erzählt der Film in herausragenden, cineastischen Bildern seine Geschichte.
Dieser Film spielt in meinem Land, Saudi-Arabien, in den 90er Jahren. Damals war Kunst in all ihren Formen und Farben nicht erlaubt. Heute hat sich zwar alles geändert, aber es war eine Zeit, die 35 Jahre lang andauerte. Viele Künstler und Musiker beendeten ihre künstlerische Laufbahn aufgrund des Drucks, der auf sie ausgeübt wurde. In diesem Film geht es um diese besonderen Menschen, die es geschafft haben, ihre Kreativität am Leben zu erhalten, obwohl sie von der damaligen Gesellschaft als anders oder als Außenseiter angesehen wurden
Tawfik Alzaidi, Regisseur von “Norah”
Tawfik Alzaidi sieht in “Norah” mehr als einen Spielfilm. Er wollte eine Inspirationsquelle für künftige Generationen schaffen, die die Zuschauer auffordert, angesichts von Widrigkeiten durchzuhalten und sich unermüdlich für ihre Träume einzusetzen. Auch Maria Bahrawi, in Cannes über ihre Darstellung von Norah befragt, betont die Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit der Figur. Sie zieht Parallelen zu ihrer eigenen Reise der Selbstfindung und des Empowerments. Mit ihrer Entschlossenheit, Herausforderungen zu meistern und sich ihren Weg zum Erfolg zu bahnen, verkörpert auch ihre Figur Norah die Werte Selbstvertrauen und unerschütterliche Entschlossenheit.
Das Fazit der #SaudiMag-Redaktion
Seit der Aufhebung des Kinoverbots im Jahr 2017 hat sich in Saudi-Arabien eine aufblühende Filmszene entwickelt, die seit ihrer ersten Teilnahme im Jahr 2018 eine wachsende Verbindung zu den Filmfestspielen von Cannes aufgebaut hat. Norah ist vor allem wegen der mutigen Story, aber auch wegen der herausragenden Fotografie ein Schritt nach vorn für die saudi-arabische Filmszene. Man erkennt aber auch, dass der Film ein Erstlingswerk ist. So verliert sich die Regie stellenweise in Details, die die Handlung nicht verdichten sondern von ihr ablenken. “Kill your darlings” wird an den Filmschulen gelehrt. Das bedeutet, dass die Regie sich von gedrehten Lieblingsbildern und Einfällen zu trennen lernt, wenn diese die Dramaturgie doch nicht voranbringen. Auch beim Schauspiel gibt es noch Luft nach oben – dies zumindest hört man aus der internationalen Kritik. Als deutschsprachiges Magazin sind wir sind mit solchen Bewertungen zurückhaltend. Denn wir meinen, daß die eine oder andere schauspielerische Nuance durchaus auf dem Weg zwischen den Kulturen und Sprachen auf der Strecke bleiben kann. Definitiv sieht man allen Beteiligten an, wie viel Emotion sie in dieses Projekt gesteckt haben.
Gut möglich, daß auch etwas künstlerische Befangenheit mitgeschwungen ist, sich dieses (aus saudischer Sicht) durchaus brisanten Stoffes anzunehmen – sei es als Autor, Regisseur, Produzent oder Darsteller. Denn Saudi-Arabien ist trotz aller gesellschaftlicher Umbrüche der letzen Jahre auch heute kein Land, in dem man seine Meinung offen sagt. Zu groß ist die Gefahr persönlicher Nachteile, die mittlerweile oft finanzieller Natur sind. Denn der Staat investiert viel Geld in die verschiedenen Künste. Wer an Fördermitteln und Aufträgen partizipieren will, wird sich davor hüten, aus der Spur zu springen. Staatlicher Geldsegen fördert und limitiert die Kunst in gleichem Maße. Deshalb geben selbst die Produktions- und Verleihfirmen von “Norah” der ausländischen Presse (wie etwa #SaudiMag) keine Antwort auf Detailfragen zum Film. Zu groß ist die Furcht, in der Heimat für ein falsches Wort zur Verantwortung gezogen zu werden, bei irgendwem oder bei irgendeiner saudischen Behörde in Misskredit zu geraten…und dann womöglich vom Geldsegen ausgeschlossen zu sein. Trotzdem und auch deshalb ist Norah ein Film, bei dem viele Beteiligte viel Mut bewiesen haben. Dafür gebürt den Filmemachern größter Respekt.
Eine Filmindustrie muss wachsen, ebenso ihre Künstler. Diese Zeit darf sich auch die Filmszene im Königreich nehmen. Nach Jahrzehnten ohne jede künstlerische Ausdrucksmöglickeit werden saudische Künstler die gegenwärtige Situation mit limitierter Kreativität durch die eigene “Zensur im Kopf” als Freiheit empfinden. Regisseur Tawfik Alzaidi zeigt mit seinem Debut viel Potential und weckt große Erwartungen. Man kann gespannt sein, was aus den ersten Schritten entsteht, die eben getan werden. In Deutschland und Österreich wird man Norah (außerhalb von Festival-Screenings) voraussichtlich in absehbarer Zeit im Streaming sehen können #