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Elektro-Heli: Innovation oder Windei?

Volocopter auf Testflug in Neom

Foto: Volocopter, Neom Entwicklungsgesellschaft, SPA

Vorgeschichte: Neom ist eine Region im Nordwesten Saudi-Arabiens, die Jahrzehnte lang vergessen war – eine steinige Einöde zwischen dem türkisfarbenen Wasser des Roten Meeres, entlang an der Grenze zu Jordanien bis hinter die Berge zur heutigen Provinzhauptstadt Tabuk. Seit einigen Jahren werden hier visionäre Dinge erdacht und umgesetzt – nicht trotz der entlegenen Lage, sondern eben deswegen. Lesen Sie hier #Saudimag mehr über die Projekte in Neom.

Bereits im letzten Jahr haben Neom und Volocopter mit Wurzeln in Deutschland ein Joint Venture gegründet, in das die Neom-Entwicklungsgesellschaft rund 160 Millionen Euro einbringt. Das Ziel: Ein weltweit erstes, öffentliches “vertikales” Mobilitätssystem zu entwickeln und zu betreiben. Anders gesagt: ÖPNV per Elektrohubschrauber, emissionsfrei zu 100% durch Solar- und Windenergie angetrieben. Innovative Lufttaxi- und Logistikdronen könnten also in wenigen Jahren durch Neom schwirren.

Könnten. Denn die Frage, ob Volocopter nach Jahren des Probierens, Studierens und Geldeinsammeln mit einem seiner Fluggeräte auch wirklich kommerziell einsetzbar sein wird, ist weiterhin offen. Bislang jedenfalls sieht man die wenigen, handgefertigten Prototypen ausschließlich im Zeitlupenflug in geringer Höhe über gut abgesperrte Plätze schwirren. Eine Anfrage von #SaudiMag bzgl. aktueller Details hat die Pressestelle der Firma Volocopter sprachlos gemacht.

In Neom ist man allerdings Fortschritt gewöhnt; hier werden Ergebnisse erwartet und Volocopter wird sehr bald Fakten liefern müssen. Das Gemeinschaftsunternehmen will Betreiber der ersten öffentlichen Drohnen-Nahverkehrsstrecken in Neom werden. Zudem soll es ein offenes “eVTOL”-System aufbauen – das ist die zungenbrechende Abkürzung für “electric Vertical Take-Off and Landing” und meint senkrechtstartende Flugzeuge, z.B. Hubschrauber. Das geplante System umfasst Mobilitätsdienste für Logistik (z.B. Paketlieferungen), allgemeine Notfallhilfe und den Tourismus.


Die Serienproduktion des “Volocity” mit einem jährlichen Output von 50 Stück wurde im badischen Bruchsal gerade gestartet. Es ist ein Flugtaxi mit 35 Kilometer Reichweite für 1 Piloten und 1 Passagier. Das Flugzeug kann autonom fliegen, darf es aber nicht; es fehlen noch die luftrechtlichen Regelungen für den Alleinflug

Für den Start des Projektes wurden zehn Volocity-Flugtaxis und fünf Transportdrohnen bestellt, die innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre den Flugbetrieb in der Region aufnehmen sollen. Wenn es denn mal technisch gelingt. Flugtests jedenfalls, darin ist Volocopter inzwischen meisterhaft, wurden in Neom soeben durchgeführt – auch diesmal über gut gesichertem Terrain und wie gewohnt ohne Passagier an Bord. Immerhin flog man aber doch in größerer Höhe und in einem weiteren Radius herum, als dies bisher bei Promotionflügen üblich war.

Laut eigenen Angaben hat Volocopter die Serienproduktion seiner 2-Personen-Drohne bereits im April 2023 aufgenommen. Nur brauchbar fliegen muss sie also noch. Brauchhbar, das meint nicht nur als überdimensionales, ferngesteuertes Modell, dem man vom Boden zuschauen kann, wie es schön seine Kreise zieht. Momentan klingt das alles wie ein Deja-vu: Großartige Visionen vom eigenen Höhenflug hatte vor ein paar Jahren auch die deutsche Firma Cargolifter. Diese machte mit einem innovativen Zeppelin von sich reden, eine Revolution des Lufttransports sollte er sein…der sich aber nach zahlreichen Testflügen, staatlichen Finanzspritzen und vielen Risikokapital-Millionen als kalt gefüllter Windbeutel herausstellte.

Neom hat sich zum Ziel gesetzt, ein globales vitales Labor für die Mobilität der Zukunft zu werden. Wir sind sehr gespannt darauf, neue Konzepte in die Wirklichkeit zu bringen

Nadhmi Al-Nasr, CEO der Neom-Entwicklungsgesellschaft

Demonstration eines Lufttaxis in Neom: Ja, es fliegt – wieder mal ohne Besatzung. Was sagt uns das? Wir haben Volocopter gefragt…an der Antwort wird nun seit 5 Monaten gearbeitet

Die Zusammenarbeit zwischen Neom und Volocopter ist definitiv spannend. Es kann ein Leuchtturmprojekt zur Umsetzung eines wirklichen, dreidimensionalen öffentlichen Verkehrssystems werden. Die hier gewonnenen Erkenntnisse könnten die technischen, regulatorischen und infrastrukturellen Lösungen nicht nur in Neom vorantreiben – das gewonnene Wissen aus Saudi-Arabien würde weltweit ausstrahlen.

Gegenwärtig sind die elektrischen Senkrechtstarter noch ein wesentlicher Bestandteil der Mobilitäts-Mission von Neom, da sie die Beförderung von Personen und Gütern “ohne umfangreiche Oberflächeninfrastruktur” ermöglichen. Das ist Technikersprech für: ohne umfangreichen Straßenbau. Flugverbindungen sollen eingerichtet werden zwischen der zukünftigen Neom-Hauptstadt “The Line”, dem Industriehafen Oxagon und anderen regionalen Zielen. Gleicht man den Liefertermin der bestellten Flugtaxis (2025/26) mit dem geplanten Betriebsstart verschiedener Projekte in der Region Neom ab, so wären erste Verbindungen zwischen Oxagon, Sindalah und Trojena denkbar (Fertigstellung 2025/26), ggf. auch als Zubringer-Shuttle zum heutigen Flughafen Neom Bay, womöglich unter Einbeziehung der “Neom Communities” genannten Wohn- und Arbeitsdörfer ausländischer Fachkräfte.

Aber leider: Die genannten Strecken kann die Volocity-Baureihe, dessen Serienfertigung eben gestartet wurde, nur in der Theorie bedienen:

Denn dafür müsste das Fluggerät mit einer Batterieladung mehr als 35 Kilometer zurücklegen können. Und zudem flugrechtlich in der Lage sein, über Wasser zu fliegen (Route zum Luxus-Urlaubsresort Sindalah) bzw. technisch auch ins Gebirge aufsteigen können. Die Route zum Bergsport-Resort Trojena würde nämlich auf 2.500 Meter hinauf führen…was die Dienstgipfelhöhe des Elektro-Helis deutlich übersteigt. Wie auch immer – da es auf all diesen Strecken weitgehend bereits 4-spurig ausgebaute Straßen gibt, könnten Volocopter-Verbindungen hier noch nicht ihr ganzes Potential ausspielen. Die Kernidee ist ja, dass durch emissionsfreie Hubschrauber der weitere Ausbau von Straßen vermieden, und die einzigartige natürliche Umwelt geschützt werden soll. Da wäre es eher sinnvoll, zum Beispiel anstatt einer Seilbahn hinauf ins Gebirge eine Volocopter-Shuttleverbindung aufzubauen. Oder, anstatt eine Brücke zu einer der Neom vorgelagerten Inseln zu errichten, auf einen Volocopter-Link zu setzen. Wenn nicht, ja wenn nicht die Drohnen vor Ort eine Start-, Lande- und Ladestruktur benötigen würden, die selbst einen erheblichen Flächenverbrach darstellt.

Webseite


Der Prototyp eines Viersitzers (ganz oben), der mit einer Batterieladung 100 Kilometer weit fliegen kann, hat 2022 einen fast 3-minütigen Testflug absolviert und blieb damit rund 6x länger in der Luft als der beste Papierflieger der Welt. Der Viersitzer ist viele Jahre von einer Serienproduktion entfernt. Eine Logistik- und Lastendrone ist mehr als eine aufgepumpte Standarddrone – sie transportiert Lasten bis zu 200 Kilogramm, fliegt 40 Kilometer weit und ist für autonomes Fliegen optimiert. Dieses Muster ist ein Derivat der eigenen Taxidrone – keine Sitze, keine Gondel stattdessen eine solide Lastaufnahme – und damit technisch bereits einsetzbar. Sie ist eine echte Pionierleistung der Firma Volocopter mit Wurzeln in Deutschland. Allerdings: Es fehlen international auch hier die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Flugbetrieb

Fraglich ist, und diesen Gedanken mag sich ein jeder Leser selbst ausmalen, wie viele Volocopter-Fluggeräte man wohl braucht, um den Straßenverkehr in einer Region merklich zu verringern, in der 1 Million Menschen leben (das ist das Planungsziel 2030) . Und, ob ein endlos daherschwirrender Schwarm von Hunderten von Elektro-Hubschraubern mit jeweils 2 bis 4 Passagieren an Bord denn wirklich besser ist als die klassische Straße…auf der man vielleicht schlicht und einfach ausschließlich nachhaltig geladenen Elektroautos die Benutzung gestatten könnte. Gerne auch innovativ gedacht, und die Autos autonom geführt. Da würde es überraschen, wenn die Lärmentwicklung einer solchen Straße über der von Hunderten von Hubschrauberdrohnen liegen würde.

Wir sind begeistert und stolz, mit Volocopter zusammenzuarbeiten, um die vertikale Mobilität hier in Neom Wirklichkeit werden zu lassen. Ich freue mich darauf, gemeinsam die Mobilität zu revolutionieren

Florian Lennert – Head of Mobility, NEOM

Laut Angaben des Herstellers sollen Volocopter-Elektrohubschrauber in Neom “wirklich nachhaltig mit 100% erneuerbarer Energien betrieben werden. Die Flugzeug-Familie wird Passagieren (VoloCity und VoloConnect/Region) und Gütern (VoloDrone) schnelle, sichere und emissionsfreie Verbindungen zu ihren Zielen bieten.”

Ganz klar ist: Das Engagement von Neom, ein solches Joint Venture zu starten, macht das Interesse der Entscheider an Visionen und an neuen Technologien erkennbar. Es ist ein Wagnis und es verdient Respekt. Jemand muss den ersten Schritt tun, der Versuch ist das, worauf es ankommt – und auch gescheiterte Versuche sind ein Erkenntnisgewinn.

Das Technische Datenblatt der Volocity-Serie zeigt objektiv, dass diese Technologie am Anfang steht. Die ersten, in der Zukunft ausgelieferten 15 Fluggeräte werden vor allem Testflugmuster sein, fernab einer Skalierung auf eine umfassendes, öffentliches Transportsystem. Dafür wird man leistungsstärkere Produkte haben müssen, die zur Zeit bei Volocopter nicht verfügbar sind. Das nächste, größer dimensionierte Fluggerät für 3-4 Passagiere mit einer Reichweite von 100 Kilometer etwa, VoloRegion, ist lange nicht serienreif. Bis davon eine angemessene Anzahl (die man benötigt, um ein Transportsystem zu begründen) – tatsächlich in Neom eintrifft, wird das Jahr 2030 vergangen sein. Das ist eine lange Zeit um ein Drohnensystem zu installieren. Denn in Neom ist man anderes gewöhnt; in solchen Zeiträumen werden üblicherwiese Berge abgetragen und ganze Stadtteile von Grund auf errichtet. Ob man die Geduld hat, ebenso lange auf ein funktionierendes Drohnensystem zu warten, wird sich zeigen. Wir sind aber weiterhin positiv gespannt, werden das Thema im Blick behalten und freuen uns darauf, uns überraschen zu lassen #

Comments 2
  1. Es gibt schon richtige Hubschrauber mit Batterie die auch schon wirklich fliegen mit Menschen an Bord: Zitat: “Elektrisch betriebene Flugzeuge sind ein schon länger bekanntes Konzept, an dem bereits viele Jungunternehmen feilen. Doch auch E-Helikopter sind eine reale Möglichkeit. Das hat das US-Unternehmen Tier 1 Engineering gemeinsam mit Lung Biotechnology PBC kürzlich mit einem Testflug in Kalifornien unter Beweis gestellt. Bei dem Modell, das dabei zum Einsatz kam, handelte es sich laut CleanTechnica um eine umgebautes Version des „gewöhnlichen“ Helikopters Robinson R44” https://verticalmag.com/news/tier-1-engineerings-electric-e-r44-makes-historic-airport-to-airport-cross-country-flight/

    1. Hallo Letzter Dodo, vielen Dank für den Hinweis und den Link. Ja, der ganze Bereich der E-Flugzeuge sind eine Technologie, die noch einen guten Weg vor sich hat. Der in Deinem Link erwähnte übliche, auf E-Betrieb umgebaute Helicopter hat ja auch nur eine verringerte Tragkraft. Es wird an zahlreichen Konzepten gearbeitet, gut dass sich dafür Menschen und Finanzierer mit Vision finden. Schauen wir mal, was das daraus wird.

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